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Sexuelle Lust ankurbeln, Motivation ist alles (oder fast)

Aktualisiert: 19. Jan. 2023


Ich freue mich, dass Sexologen immer mehr Präsenz in den Medien bekommen und möchte mich bei Frau Gil Waeger ganz herzlich bedanken für Ihre Fragen und Ihre Neugierde über die sexuelle Unlust. Aus dem Interview ist ein Artikel für das online Magazin Femelle entstanden. Wer die Zusammenfassung vom Interview lesen will, kann den online Artikel lesen sonst findet ihr hier unten eine ausführliche Erklärung über sexuelle Unlust und was ihr machen könnt, um die sexuelle Interesse anzukurbeln.

Gil Waeger: Was sind mögliche Gründe für sexuelle Unlust? Gibt es Unterschiede, weshalb Frauen und Männer an sexueller Unlust leiden? Wenn ja, welche?

Anstatt sich wegen möglicher Gründe für sexuelle Unlust verrückt zu machen, sollte jeder zuerst einmal überlegen, worauf er/sie eigentlich Lust hat. Das fällt vielen Menschen schwer, aber es ist sehr wichtig, an dieser Stelle zu differenzieren: Habe ich grundsätzlich kein Interesse an sexuellen Aktivitäten? Oder habe ich zwar Lust auf Selbsterotik aber nicht auf Paarsex? Habe ich Lust auf Zärtlichkeit aber nicht auf Sex? Oder habe ich Lust auf Sex, aber nicht auf meinem/meiner Partner*in? Und ganz grundsätzlich: hatte ich überhaupt schon einmal Lust oder ist mir die Lust vergangen?

Wenn ich nach Gründen für sexuelle Unlust frage, werden oft langweiliger Sex, Stress, Müdigkeit, Beziehungskonflikte, Ängste, Scham genannt. Dahinter steht aber in vielen Fällen fehlende Motivation. Warum habe ich Sex? Und es reicht eben nicht, diese Frage einmal im Leben zu beantworten, denn die Motivation für sexuelle Aktivitäten ändert sich ständig mit dem Alter und während der verschiedenen Phasen einer Partnerschaft.

Aus biopsychologischer Sicht sind die Ursachen für Unlust zwischen Männern und Frauen sehr ähnlich:

  • Körperliche und psychische Überlastung, Stress, Müdigkeit

  • Nebenwirkungen von Antidepressiva, Neuroleptika oder anderen Medikamenten, ebenso wie übermäßiger Drogen- oder Alkoholkonsum

  • Erkrankungen wie Diabetes, Herzkrankheiten oder neurologische Erkrankungen

  • Geringe oder fehlende Lebenszufriedenheit

  • Sexueller Orientierungskonflikt

  • Probleme mit dem eigenen Körperbild und Veränderung des Körpers (z.B. Älter werden)

  • negative und/oder schmerzhafte sexuelle Erfahrungen

  • mangelnde Intimität, Entfremdung, Bindungsangst sowie hohe Erwartungen an die Beziehung

  • Partnerschaftskonflikte (wegen Finanzen, Kindererziehung, Familienmitglieder, Aufgabenverteilung)

  • Institutionalisierung der Beziehung und der Sexualität (sexuelle Routine oder sogar Langeweile)


Trotzdem gibt es einige geschlechterspezifische Unterschiede. Während sexuelle Unlust bei Männern durch Testosteronmangel verursacht sein kann, leiden Frauen öfter aufgrund hormoneller und körperlicher Veränderungen im Zusammenhang mit Schwangerschaften, Stillzeit oder Menopause (z.B. Mangel an Lubrikation). Auf Grund von Geburtsverletzungen können Sensibilitätsstörungen sowie urologische Beschwerden (z.B. Inkontinenz) auftreten. Die ausbleibende oder verminderte Fähigkeit körperliche Signale der sexuellen Erregung zu spüren, zu erkennen und genussvoll zu erleben, kann die sexuelle Unlust verstärken. Ein weiterer Aspekt insbesondere bei jungen Eltern sind gesellschaftlich geprägte Rollenbilder, wie z.B. die Mutterrolle, die nicht-sexuell konnotiert ist.

Ausserdem ist die weibliche Lust von der Wissenschaft lange ignoriert und der Geschlechtsapparat auf die reproduktive Funktion reduziert worden. Erst seit wenigen Jahrzehnten steht die Erforschung der weiblichen Lust und Unlust auf der Agenda und es freut mich mitzuteilen, dass die Klitoris mit 10'000 Nervenfasern ein mehr als doppelt so empfindliches Lustorgan wie die Eichel des Penis ist.

Die möglichen Ursachen für sexuelle Unlust bei Männern sind im Grossen und Ganzen ähnlich vielfältig wie bei Frauen auch hinsichtlich hormoneller Ursachen (z.B. Testosteronmangel). Stress und Beziehungsprobleme ebenfalls sind häufig genannte Ursachen. Allerdings sind Männer noch stärker auf Leistungsdruck und damit in Zusammenhang stehende Versagensängste geprägt, die letztendlich zu sexueller Unlust führen können. Sexuelle Unlust herrscht bei Männern in meiner Praxis vor allem wegen psychosozialen Ursachen. Der Fokus der männlichen Sexualität ist auf die Funktionierbarkeit des Penis reduziert: «er steht, also bin ich». Oft wissen Männer aber nicht, was sie genau erregt und brauchen immer intensiveren Reize, eben um den gesellschaftlichen Normen und unrealistischen Erwartungen von Potenz- und multiplen Orgasmuszwang erfüllen zu können. Dieser Druck ist noch stärker bei homosexuellen Männer und kann sogar zu sexualisierten Drogenkonsum und Chemsex führen. Daraus entstehen vor allem einen hoher Leistungsdruck sowie eine tiefe Angst vor sexuellem Versagen, d.h. ein Selbstzweifel am eigenen Können. Ich merke auch, dass junge heterosexuelle Männer seit der Metoo Bewegung sehr verunsichert sind. Aus Angst, dass Frauen sich belästig oder angegriffen fühlen, trauen Sie sich nämlich nicht mehr, Frauen anzusprechen.


Gil Waeger: Viele Menschen Fragen sich, was eine normale Libido ist. Doch gibt es das überhaupt? Ist es nicht vielmehr so, dass jeder Mensch die eigene Sexualität anders auslebt und auch unterschiedlich viel Lust auf sexuelle Aktivitäten hat?

Da haben Sie Recht. Was Sexualität und sexuelles Verlangen angeht, gibt es keine Normalität. Tatsächlich stellen mir viele Klient*innen die Frage nach «Normalität». Jedes Mal zitiere ich dann etwas provokativ einen Professor meines Masterstudiengangs mit den Worten: «Normalität ist die grösste Perversität!». Statt seine Sexualität und Beziehung selbst zu bestimmen, suchen wir Menschen nach Modellen, Vorbildern, Normen, usw.. Wer unbedingt in einen Rahmen passen will, macht sich aber oft unglücklich. Es ist besser sich zu fragen: «Was will ich? Was tut mir gut? Wie stelle ich mir das vor?» und «Wie sieht das bei Dir aus?». Oft fehlt dieser wichtige Schritt in Beziehungen. Alle haben Erwartungen, wie der Sex ablaufen sollte, aber drüber geredet wird es nicht. Dann herrschen Missverständnisse, Frust und Ärger und keine Spur von Lust, Liebe und Bindung.


Jeder Mensch ist in Bezug auf sein sexuelles Verhalten, Verlangen und Bedürfnisse anders. Was für den einen als "normale" Libido gilt, ist für den anderen unvorstellbar und während manche Menschen ein hohes sexuelles Begehren haben und häufig sexuell aktiv sind, haben andere hingegen eine niedrige sexuelle Appetenz. Es gibt keinen richtigen oder falschen Weg, seine Sexualität auszuleben. Das Wichtigste ist, sich selbst und die eigene Sexualität zu verstehen, zu akzeptieren sowie offen und ehrlich mit dem/der Partner*in über die eigenen sexuellen Wünsche und Grenzen zu sprechen.


Vorhin habe ich schon erwähnt, dass die sexuelle Lust mit bestimmter Intentionen für sexuelle Handlungen verbunden ist. Diese sexuelle Motivation lässt sich in 3 verschiedenen Dimensionen kategorisieren, die nicht nur individuell unterschiedlich sind, sondern sich auf im Verlauf des Lebens auch verändern: die Lustdimension, die Beziehung und die Fortpflanzung. Die Lustdimension ist mit dem Streben nach sexuellem Genuss, Neugierde und Spass an sexuellen Experimenten verbunden. Die Beziehungsdimension ist eher mit Gefühlsausdruck, um emotionale und körperliche Bedürfnisse nach Nähe, Geborgenheit, Bestätigung und Liebe zu stillen sowie Bindung, Stabilität und Kontinuität in der Paarbeziehung aufzubauen. Falls ein oder mehrere Kinder auf dem Lebensplan stehen, dann ist Fortpflanzung für heterosexuelle Paare einen guter Grund, um Sex zu haben. Und dann?


Es ist wichtig, sich Fragen zu stellen: Welche Bedürfnisse will ich im Moment über den Sex stillen? Will ich Stress abbauen und mich entspannen? Suche ich einfach die Nähe zu meinem/meiner Partner*in? Haben wir uns gestritten und wollen uns auf dem Kopfkissen versöhnen? Brauche ich Bestätigung meiner Attraktivität oder sexuellen Fähigkeiten, um mich als Mann/Frau zu fühlen? Suche ich die Verschmelzung mit meinem/meiner Partner*in? Will ich einfach nur Spass? Wünschen wir uns ein Kind? Habe ich Sex, weil ich Angst habe, meinen/meine Partner*in zu verlieren?

All das sind legitime Motivationen, um Sex zu haben. Und ja, es ist auch OK keine Lust zu haben.


Gil Waeger: Was kann man gegen Libidoverlust machen? Gibt es überhaupt irgendwas, was man dagegen machen kann?

Die meisten Leute warten auf dem Rückkehr der Lust. Das klingt so, als ob sie etwas verloren hätten. Dabei wissen die meisten nicht, was diese Lust vorher geweckt hat. Die Lust, genauso wie die Lebensfreude, entsteht nicht von allein. Man muss etwas machen! Passiv zu warten, dass die Lust zurückkommt, hilft nicht.


Die meisten Menschen, die in meine Praxis kommen, haben keinen oder kaum noch Sex, oft auch weil sie besseres zu tun haben. Ob Job, Familie, Freunde oder Hobbys, die Sexualität hat kaum noch Raum im persönlichen Leben oder in der Beziehung. Darum ist es wichtig als ersten Schritt die Sexualität zu priorisieren!


Von Paaren höre ich häufig, dass sie ihre*n Partner*in mit ihrer sexuellen Antrieb nicht «belästigen» oder «bedrängen» wollen. Viele hoffen, dass die sexuelle Stimmung spontan entsteht und beide gleichzeitig Lust auf Sex bekommen. Das passiert aber ehrlich gesagt eher selten.


Ganz konkret zeigt die Forschung, das sexuelle Erregung und Lust von internen und externen Reizen getriggert wird. Darum helfen zum Beispiel Rituale oder auch terminierte Sex-Dates mit dem/der Partner*in, um gegen Libidoverlust aktiv zu werden. Wenn es gelingt, einen lustvollen Zugang zur eigenen Sexualität (wieder) zu finden, dann entstehen sich selbst verstärkende «Loops». Das heisst ein lustvolles Erlebnis ist eine gute Quelle für weitere lustvolle Erlebnisse, da die Erinnerung selbst sexuelle Erregung triggern kann.

Statt auf die Lust und sexuelle Erregung zu warten, kann ich durch sexuelle Fantasien, Erinnerungen, antizipatorischen Gedanken, Körperempfindungen und Emotionen eine sexuelle Reaktion auslösen. Dies setzt aber ein allgemeines Wohlbefinden voraus. Dazu hilft es manchmal auch den Lebensstil zu ändern, z. B. durch regelmäßigen Sport, gesunde Ernährung, ausreichend Schlafen und Stressreduktion.


Gil Waeger: Im Internet liest man immer wieder über Hausmittel gegen sexuelle Unlust. Ist es überhaupt möglich, dies mit Hausmitteln anzugehen? Oder steigern diese aphrodisierenden Lebensmittel einfach schon vorhandene Lust? Wenn es welche gibt: Weshalb nützen diese und was sind Beispiele?

Das Wundermittel für sexuelle Lust gibt es leider nicht. Das liegt daran, dass sexuelle Lust ein sehr individuelles, komplexes und situatives Konstrukt ist. Es ist wohl möglich, dass bestimmte "aphrodisierende" Lebensmittel in einigen Fällen die sexuelle Lust steigern, aber ich denke, dass Schokolade, Erdbeeren, Chilli, Austern und Champagner eher mit unserer Vorstellung von Erotik und Romantik zu tun haben, als dass sie tatsächlich die sexuelle Lust auslösen. Soweit ich weiss, gibt es kaum wissenschaftliche Untersuchungen über die Wirksamkeit dieser Haus- oder Lebensmittel, so dass es schwierig ist, mit Sicherheit zu sagen, ob sie wirksam sind. Sogar medikamentöse Behandlungen gegen Libidomangel zeigen aufgrund komplexer biochemischer Zusammenhänge keinen zuverlässigen und überzeugenden Erfolg. Viele Menschen glauben auch, dass die Einnahme von Viagra bei sexueller Unlust helfen kann. Da irren sie sich völlig! Viagra hilft nur bei der Vasokonjektion, d.h. den Penis mit Blut zu versorgen, um idealerweise eine Erektion zu unterstützen. Ohne Stimulation kann der Erregungsreflex und dann die Erektion aber nicht ausgelöst werden. Viagra hat also mit sexuellem Verlangen und lustvoller Wahrnehmung sexueller Erregung nichts zu tun.

Das beste Hausmittel und Medikament, das ich empfehlen kann, ist Sex! Denn wer die Selbstbefriedigung oder die Paarsexualität mit Freude und in vollem Bewusstsein erlebt, verschafft sich einen Cocktail von Glückshormonen. Zahlreiche Neurotransmitter und Hormone wie Dopamin, Oxytocin, Serotonin, Noradrenalin, Melatonin und Endorphin werden bei Bewegung, Berührungen und Orgasmen in unserem Organismus freigesetzt und sind ein Super-Booster für Entspannung, Zufriedenheit, Glücksgefühle und Wohlbefinden.

Oxytocin wird beim Orgasmus, aber auch bei alltäglicheren Alltagskontakten freigesetzt, weswegen Körperkontakte wie Händchen halten, küssen, umarmen oder auch Blickkontakte sehr wichtig sind. Sie verstärken das Gefühl der Verbundenheit, des Wohlbefindens und der Ruhe.


Gil Waeger: Für Menschen in einer Beziehung kann der eigene wie auch der Libidoverlust der Partnerin oder des Partners bedrückend sein. Auch der Libidoverlust der Partnerin oder des Partners kann uns zu schaffen machen. Wie geht man mit sexueller Unlust in einer Beziehung um? (sowohl als Partner:in wie auch, wenn man selbst davon betroffen ist)


Ja, es ist tatsächlich oft so, dass der/die Partner*In sich zurückgestossen und nicht mehr geliebt fühlt. Man könnte von einer narzisstischen Kränkung sprechen. Das liegt einfach gesagt daran, dass Sex in einer Beziehung gleichzeitig unter- und überschätzt wird. Viele Menschen reduzieren sexuelles Erleben auf Penetration und Orgasmus. Tatsächlich ist aber das Spektrum möglicher sexueller Erfahrungen viel weiter. Es ist also häufig ein guter Ansatz, sich zuerst einmal von festgefahrenen Vorstellungen zu lösen.


Anschliessend braucht es ein offenes und ehrliches Gespräch über Bedürfnisse und sexuelle Wünsche begleitet von der Bereitschaft, allein oder mit dem Partner zu experimentieren. Somit können andere Facetten von sich selbst und dem/der Partner*in kennengelernt werden und somit auch neue Wege zur spannender, abwechslungsreicher und erfüllter Sexualität entdeckt werden.


Es ist aber auch wichtig zu erwähnen: wenn die sexuelle Unlust mit Leidensdruck verbunden ist, dann sollten sich Menschen Hilfe bei einer Fachperson suchen. In diesem Rahmen kann schrittweise und individuell begleitet ein guter Weg zurück zu einer lustvollen Sexualität erarbeitet werden.


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